2013 Walsroder Erklärung

anlässlich der 2. interdisziplinären Fachtagung
„Leben mit Autismus – (k)ein Problem?! „
am Samstag, 28. September 2013
in der Stadthalle Walsrode

Walsroder Erklärung als PDF-Datei

 

Einleitung

Die 2. interdisziplinäre Fachtagung „Leben mit Autismus – (k)ein Problem?! „ widmet sich dem gesamten lebensrelevanten Spektrum von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus, von der möglichst frühen Diagnose über das integrative Gestalten der (vor)schulischen, berufsbildenden, beruflichen und privaten Situation bis hin zur allgemeingesellschaftlichen Inklusion, der wirklichen Teilhabe am Leben. Auch wenn die tatsächlichen Ursachen für Autismus noch nicht abschließend geklärt sind, hat die Autismus-Forschung in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte zu den Fragen, wie Autismus sich auswirkt und wie autistische Beeinträchtigungen wirkungsvoll behandelt oder kompensiert werden können, erzielt. In Ansätzen haben diese Erkenntnisse bereits Eingang gefunden in die medizinische, psychologische, therapeutische und (vor)schulpädagogischen Praxis. Doch nach wie vor bedarf es Verbesserungen in der rechtzeitigen Diagnose, in der Verbreitung des Fachwissens über autismusspezifische Förderung und in den Hilfen für die Betroffenen und ihre Familien. Dabei sind alle gefordert: Politiker, Behörden und Ämter, Schulen sowie alle medizinischen, psychologischen und therapeutischen Einrichtungen, denn seit 2009 ist in der Bundesrepublik Deutschland durch Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention das Inklusionsziel verbindlich.

 

Teil 1: Diagnose

Auch wenn Autismus heute eine größere Aufmerksamkeit zuteil wird als vor Jahren, gibt es in Niedersachsen nach wie vor Kinder, die unakzeptabel spät diagnostiziert werden. Eine frühe Diagnose ist wichtig, weil dadurch die Förderung früher einsetzen kann, was zu einer Verbesserung der Prognose hinsichtlich des zu erreichenden Funktionsniveaus führt. Eine gesicherte Diagnose ist für frühkindlichen Autismus spätestens ab 36 Monaten möglich. Auch jüngere Kinder müssen bei entsprechenden Auffälligkeiten engmaschig beobachtet und therapeutisch begleitet werden.

In der Breite sollte bei den Kinder-Vorsorge-Untersuchungen flächendeckend auf Verhaltensweisen geachtet werden, die Hinweise auf eine Autismus-Spektrum-Störung geben können. Unter anderem muss dies gezielt im Alter von 24 Monaten im Sinne eines einfachen Screenings erfolgen. Insofern muss das Vorsorgeprogramm ergänzt werden. Diese Symptome sind unspezifisch, müssen aber bei dringendem Verdacht dazu führen, dass ohne Verzögerung eine fachgerechte, gezielte Diagnostik durchgeführt wird. Diese sollte auch veranlasst werden, wenn unabhängig von den Vorsorgeuntersuchungen der dringende Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung geäußert wird.

Für eine fachgerechte Diagnostik spielt neben der umfassenden Beurteilung mehrerer Bereiche die standardisierte, klinische Verhaltensbeobachtung eine zentrale Rolle.

Es gibt in Niedersachsen viel zu wenige Diagnostikmöglichkeiten für erwachsene Menschen, bei denen eine Autismus-Spektrum-Störung im Raum steht. Sie bleiben oft lange Zeit im Unklaren über die Einordnung ihrer teilweise einschneidenden Symptome. Eine Klarheit darüber ist nicht nur für das persönliche Verständnis wichtig, sondern auch für die Ausbildung und die berufliche Tätigkeit, weil die Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet und im Bedarfsfall Nachteilsausgleiche gewährt werden können. Es sind in Niedersachen deutlich mehr Experten nötig, die sich diesem Personenkreis zuwenden.

 

Teil 2: Kindergarten und Schule

Nach wie vor fehlt ein spezifisches schulisches und vorschulisches Unterstützungssystem für autistische Kinder und Jugendliche – mit teilweise schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen und ihre Familien. Herauskristallisiert hat sich zwar ein mittlerweile breites Angebot für die Kinder zwischen drei und sechzehn Jahren, welches aber längst nicht alle Haushalte erreicht die es benötigen, sei es durch mangelnden Informationsfluss oder durch nicht ausreichende Plätze. Um diese Situation möglichst kurzfristig zu verbessern, bedarf es für Kindergärten und Schulen aller Trägerschaften eines landesweit wirksamen Fachberatersystems Autismus, ausgestattet mit entsprechender Handlungskompetenz durch die Schul- und Gesundheitsämter. Dabei muss eine kontinuierliche Weiterbildung und Qualifizierung der Fachberater gewährleistet sein. Lehrerinnen und Lehrer müssen bereits an der Universität themenspezifische Ausbildungsangebote erhalten. Um auf autistische Beeinträchtigungen erfolgreich mit pädagogischen Mitteln reagieren zu können, benötigen sie zudem berufsbegleitende Fortbildungen. Fast dringender noch in der Arbeit mit jungen Kindern gilt dies auch für Erzieher/innen und Heilerziehungspfleger/innen mit dem Ziel, zur Früherkennung in Krippen und Kindertagesstätten beitragen zu können.

Die Verfügbarkeit von notwendigen spezifischen Förderstunden muss landesweit verlässlich und verbindlich geregelt werden, ohne Haushaltsvorbehalt. Deren Umfang orientiert sich am individuellen Bedarf, wobei erfahrungsgemäß durchschnittlich fünf Wochenstunden pro Schüler erforderlich sind. Die Vernetzung der Jugend- und Sozialämter sowie der Schulen und Einrichtungen der Jugend und Behindertenhilfe müssen auf allen Ebenen vorangetrieben und unterstützt werden durch Durchführungsregelung und übergeordneter Koordination, um bestehenden Bedarf so schnell und passgenau zu entsprechen. Dringend
erforderlich sind verlässliche und verbindliche Autismusförderstunden sowie mehr Beratung zur Umsetzung des Nachteilsausgleiches. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden die Empfehlungen aus der Handreichung für den Unterricht mit Schülern mit Autismus auch in der Praxis umzusetzen. Dazu gehören eine kompetente und umfassende Beratung, passgenaue Beantragung der Hilfen, Vereinfachung der Hilfegewährung, Vereinheitlichung des Hilfeverfahrens für Eingliederungshilfe in der Sozial- und Kinder- und Jugendhilfe. Der Bereich des Kinderschutzes für Kinder und Jugendliche mit Autismus muss angebahnt und ausgebaut werden.

 

Teil 3: Arbeit und Beruf

Es gibt unverändert zu wenig autismusspezifische Angebote zur Integration ins Erwerbsleben. Die bestehenden allgemeinen Angebote und Konzepte der Arbeitsförderung sind in der Regel unpassend und überfordern oft die Teilnehmer mit Autismus. Teure Maßnahmen werden so vergeudet und die „Rehabilitanden“ verlieren unter Umständen Ansprüche auf weitere zielführende Leistungen, da sie bereits etwas in Anspruch genommen haben. Menschen mit Autismus brauchen ihnen entsprechende Ausbildungsbetriebe und Betriebe mit geeigneten Anleitern, Vorgesetzten und/oder Ausbildern, die bereit sind, sich inklusiv auf ihre besonderen Fähigkeiten und Probleme auszurichten und auf die spezifischen Problemlagen und Hemmnisse im Arbeitsalltag autistischer Menschen eingehen, indem sie z.B. spezielle Nischen einrichten oder auch nur bereit sind, von häufig als unabänderlich erlebten Routinen abzuweichen. Sie benötigen Unternehmen, die sich ihrer sozialen Verantwortung zu stellen bereit sind. Dies ist leider alles andere als selbstverständlich. Und sie benötigen Menschen an ihrer Seite, die sie unterstützen, „dolmetschen“ und Sachverhalte erklären können.

In Einzelfällen zeigt sich in der Wahrnehmung von Menschen mit Autismus im Bereich Ausbildung und Beruf bereits eine Ausrichtung auf ihre Stärken. Dies ist durch geeignete Aufklärung weiter zu entwickeln. Eine autismusspezifische Unterstützung von Praktika schon in der Schulzeit sowie eine autismusspezifische Begleitung der Übergänge von Schule in Ausbildung und weiterführend in den Beruf muss entwickelt werden. Besondere Wege der Arbeitsintegration von spät diagnostizierten Menschen mit Autismus sollten geschaffen werden. In den Arbeitsagenturen, JobCentern, Integrationsfachdiensten und Integrationsämtern muss eine Autismus-Kompetenz geschaffen werden, so dass deren Möglichkeiten der Integration in das Arbeitsleben um autismusspezifische Angebote erweitert werden. Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sollten personell und finanziell durch den zuständigen Kostenträger so ausgestattet werden, dass z. B. neben
Fortbildungsmaßnahmen der Beschäftigten, die Umgestaltung der Werkstätten auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Autismus als auch ein erhöhter Personalschlüssel zur besseren Eingliederung dieser Personengruppe möglich sind.

 

Teil 4: Wohnen

Das Angebot an Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Autismus in Niedersachsen entspricht nicht dem Bedarf und den individuell gewünschten Wohnformen. Es gibt zwar autismusspezifische Angebote, die die individuellen Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigen, aber durch gesetzliche Vorgaben wie z. B. die Einstufung in Hilfebedarfsgruppen ist die Arbeit erschwert. Es müssen Leistungsoptionen erarbeitet werden, die die individuellen autismusspezifischen Anforderungen an ein stationäres, ambulant betreutes und eigenständiges Wohnen aufzeigen. Die Anforderungen an Wohnformen und Wohnräume für Menschen mit Autismus müssen stärker auf den Bedarf der einzelnen Betroffenen abgestimmt werden, da Autismus kein graduelles Phänomen ist sondern ein individuelles. Um ein eigenständiges Wohnen von Menschen mit Autismus zu ermöglichen, müssen individuelle Hilfen wie die eines Autismuscoaches oder einer Alltags-Strukturierungshilfe außerhalb des ambulant betreuten Wohnens in Zukunft einfacher realisierbar und finanzierbar sein.
Die Versorgung von Menschen mit Autismus im stationären Bereich ist unzureichend. Der Grundsatz der Kostendämpfung ignoriert oftmals den realen Bedarf von Menschen mit Autismus. Ebenso treffen an Behinderungen ausgerichtete Kategorisierungen von Hilfebedarf in stationären ebenso wie in ambulanten Wohnformen nicht den meist sehr speziellen Bedarf an Betreuung und Unterstützung für Menschen mit Autismus. Rahmenverträge mit Leistungstypen entsprechen häufig nicht den realen Anforderungen. Es bedarf zudem einer Finanzierung und Gestaltung von Hilfsangeboten im Vorfeld der klassischen Förderungen, da Menschen mit Autismus teilweise eine große Hürde überwinden müssen, um eine Eigenständigkeit im Bereich Wohnen oder Hilfeleistungen z.B. über das Persönliche Budget überhaupt anzudenken und anzugehen.

 

Teil 5: Ergänzende Hilfen

Einrichtungen, die die benötigte Förderung autistischer Kinder in angemessenen sozialen Gruppen anbieten, speziell auf die Bedürfnisse dieser Kinder ausgerichtet, decken nicht den Bedarf der benötigten Plätze.

Für spät diagnostizierte Erwachsene mit Autismus und für erwachsen gewordene früh diagnostizierte Kinder und Jugendliche mit Autismus werden dringend Möglichkeiten und Anlaufstellen zur Krisenintervention und für Sozialtraining als Grundlage eines wenn auch nicht gänzlich selbstständigen dann doch eines freien selbstbestimmten Lebens benötigt. Wege der Selbsthilfe müssen konsequent gefördert und ausgebaut werden. Zusätzliche Optionen der Teilhabe am Leben wie freiwillige ehrenamtliche Arbeit, Selbstorganisation und autismusspezifische Freizeitangebote müssen entwickelt werden. Die Informationen über die Auswirkungen von Autismus muss flächendeckend gefördert werden.

Ferner wird ein interdisziplinärer Leitfaden benötigt, der die Variationsbreite des Autismusspektrums verdeutlicht und sowohl die unterschiedlichen medizinischen und psychologischen Fachkräfte als auch die pädagogischen Fachkräfte und Sozialarbeiter in die Lage versetzt, Autismus zu erkennen und eine gezielte Förderung einzuleiten. Dieser Leitfaden sollte auch Auskunft geben über Ansprechpartner in der Region und die sozial- und schulrechtlichen Verfahrenswege und Hilfsmöglichkeiten. Darüber hinaus sollte er auch Möglichkeiten auf Teilhabeleistungen über das Persönliche Budget aufzeigen, so dass Betroffene sich eigenständig über ihre Möglichkeiten informieren können.

Eine unabhängige Informations- und Beratungsstelle für Betroffene und ihre Angehörigen zum Thema Autismus in Niedersachsen muss dringend geschaffen werden. Diese Anlaufstelle sollte unabhängig und frei von eigenen Förderangeboten sein, damit eine Beratung und Information sich ausschließlich am Bedarf des einzelnen Menschen mit Autismus orientiert. Zudem muss eine Informationsplattform im Internet zu Fördermöglichkeiten und regionalen Förderangeboten für Menschen mit Autismus geschaffen werden. Dort müssen auch die rechtlichen Grundlagen, die konkreten Wege und der Ablauf hin zu einer individuellen Förderung und Teilhabe am Leben auf kurzem Weg verfügbar gemacht werden. Dieses Informationsangebot sollte barrierefrei und in einfacher Sprache sein. Ein möglicher Träger dieser Angebote ist die Landesarbeitsgemeinschaft Autismus Niedersachen, gegebenenfalls in Kooperation mit einem bereits beratenden und informierenden Träger.

Ziel dieser Maßnahmen soll es sein, die Hürden zur Teilhabe am Leben für Menschen mit Autismus in Niedersachsen weiter abzubauen und Hilfen flexibler zu gestalten, als sie bisher gewährt werden.

Walsrode, den 28. September 2013
LAG Autismus Niedersachsen

Folgende Kooperationspartner unterstützen diese Erklärung:

Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderungen Niedersachsen
Ärztekammer Niedersachsen
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) – Landesverband Niedersachsen
Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Niedersachsen e.V.
Philologenverband Niedersachsen
einzigartig-eigenartig e.V., Walsrode
Lebenshilfe Walsrode e.V. gemeinnützige Gesellschaft für integrative Sozialdienste mbH, Hannover
Autismus Hannover e.V.
Selbsthilfegruppe (SHG) Autismus-Spektrum Hannover
Haus im Wind, Bad Pyrmont
Salo Bildung und Beruf GmbH
Selbsthilfegruppe (SHG) Eltern von Asperger Kindern Hannover
Praxis Wandelstern, Hannover
Lavie gGmbH, Königslutter am Elm
4K Ergotherapie, Bardowick
AutHilde Diederich und Tödter GbR, Hildesheim
Neuerkeröder Wohnen und Betreuen GmbH, Sickte-Neuerkerode
Selbsthilfegruppe (SHG) Leben mit Autismus Diepholz
Lebenshilfe Wolfsburg gemeinnützige Gesellschaft mbH
ProJob Bremen gemeinnützige GmbH
Selbsthilfegruppe (SHG) Autismus Elterngruppe Nienburg/Weser
Regionalverband Schaumburg e.V. – Vereinigung zur Förderung von Menschen mit Autismus
Autismus Peine Selbsthilfegruppe
NISA e.V., Netzwerk für Inklusion In Sozialarbeit und Assistenz, Buchholz i. d. Nordheide
autWorker eG, Hamburg
Autismus Coaching Abt, Bremen
Lebenshilfe Nienburg gemeinnützige GmbH
Verein für Innere Mission in Bremen
Zentrum für Entwicklungsdiagnostik und Sozialpädiatrie (ZEUS) Wolfsburg
Lebenshilfe Braunschweig gemeinnützige GmbH
Autismus-Therapie-Zentrum Lüneburg
Autismus Ambulanz Alfeld
Berufsbildungswerk im Oberlinhaus gGmbH, Potsdam
Annastift Leben und Lernen gGmbH, Hannover