Autismus in Niedersachsen

Autismus in Niedersachsen

Das Wort „Autismus“ wird von dem griechischen Wort „autos“ abgeleitet und bedeutet „selbst, eigen“. Somit wird im Begriff Autismus das wesentliche Merkmal autistischer Menschen, ihre Selbstbezogenheit, beschrieben. Autismus ist eine im Kindesalter einsetzende tief greifende Entwicklungsstörung. Bisher unterschied man vorwiegend zwischen frühkindlichem Autismus (auch Kanner-Autismus genannt) und dem Asperger-Syndrom. Mit dem Erescheinen des neuen Diagnoseschlüssels DSM 5 im Jahr 2013 gehen diese beiden Begriffe in der Bezeichnung „Autismus Spektrum Störung“ auf.

Das Autismus-Spektrum ist diagnostisch durch das Zusammentreffen von Einschränkungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie durch eingeschränkte oder stereotype Verhaltensweisen definiert. Die spezifische Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung wird gestellt, wenn diese Einschränkungen als Entwicklungsstörungen bei einem Kind oder Erwachsenen über eine längere Zeit beobachtbar sind. Dabei unterscheidet sich der Autismus in seinem Gesamtbild und der Stärke der Einschränkung bei jedem Menschen.

Die Ursachen des Autismus sind weitgehend unbekannt. Trotz intensiver weltweiter Forschung konnte bis jetzt keine klare Ursache für Autismus erkannt werden. Angenommen werden derzeit eine genetische Disposition und das Einwirken von Umweltfaktoren. Kennzeichnend für die ursächliche Erscheinung in einem autistischen Menschen selbst ist eine von der Norm abweichende sensorische Wahrnehmung und neuronale Informationsverarbeitung. Die Folge daraus ist eine geringe Stresstoleranz und eine soziale und kommunikative Einschränkung bis hin zur Entwicklungsstörung.

Eine Reduzierung der autismusspezifischen Einschränkungen ist abhängig vom Entwicklungsstand, also der Fähigkeit zur allgemeinen Lebensbewältigung des Betroffenen. Eine frühe Diagnose und damit eine früh einsetzende autismusspezifische Förderung werden allgemein als vorteilhaft für den Verlauf der Entwicklung angesehen. Betroffene Menschen und ihre Familien benötigen oft langwierige und kontinuierliche Unterstützung, gegebenenfalls sogar lebenslang. Der Unterstützungsbedarf variiert bei jedem Betroffenen und ist bei Menschen mit niedrigem Entwicklungsniveau am höchsten.

Die Häufigkeit von Autismus in Deutschland ist eine heiß diskutierte Frage. In zwei Studien im Jahr 1988 wird die Prävalenz auf 10 bzw. 13 pro 10.000 Personen geschätzt, 1993 schätzten Ehlers und Gillberg die Häufigkeit von Autismus und dem Asperger-Syndrom zusammen auf 30 von 10.000. Im Jahr 2000 und in den folgenden Jahren nennen mehrere Studien eine Häufigkeit von ca. 60 pro 10.000. 2006 erschien eine Studie von Gillian Baird et al., laut der 1,16% der Personen im Autismus-Spektrum sind – also 116 von 10.000.

Allgemein ist ein kontinuierlicher Anstieg an Autismus-Diagnosen zu verzeichnen. Ende der 80er Jahre wurde die Definition von Autismus ausgeweitet und das Asperger-Syndrom und atypischer Autismus wurden mit in die Diagnose Autismus aufgenommen. Dadurch bekamen mehr Personen Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum. Zum anderen wird der Anstieg an Autismus-Diagnosen auf eine bessere Forschung und eine größere Bekanntheit von Autismus in der Öffentlichkeit zurückgeführt.

Unabhängig von den gestiegenen Möglichkeiten der frühzeitigen Diagnose zeigt sich eine reale Zunahme von Autismus Spektrum Störungen in der Bevölkerung. In den USA verzeichnete man einem Anstieg von Autismus um 57 % zwischen 2002 und 2006. Als Gründe hierfür werden vor allem Umweltfaktoren angenommen. Besonders kontrovers wird dabei die Vermutung diskutiert, Quecksilberzusätze in Impfstoffen könnten Autismus auslösen. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen mit Autismus lag bisher bei 4:1 und hat sich durch eine bessere Diagnostik nach neuesten Erhebungen von Prof. Vogeley auf jetzt 2:1 verringert.

Inklusion und Teilhabe

Am13.12.2006 wurde die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und ist seit dem 26.03.2009 auch in Deutschland in Kraft. Sie beinhaltet 50 Artikel mit teilweise sehr präzisen Regelungen zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die daraus erwachsenen Verpflichtungen der Länder geben weit reichende Anregungen für die Weiterentwicklung der Behindertenhilfe und ergänzen bereits bestehende Gesetze, wie z. B. SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe), SGB XII oder das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG).

Mit Forderungen nach „Inklusion“ und der „uneingeschränkten Teilhabe“ geht die Konvention weit über die aktuelle Gesetzgebung hinaus. Die Konvention hält fest, „dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind“ und dass Menschen mit Behinderungen „der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss“. Dies betrifft z. B. eine unabhängige Lebensführung und Teilhabe (Art. 19), Bildung (Art. 24), Gesundheit (Art. 25) und Arbeit und Beschäftigung (Art. 27). Neben der Erschließung gesellschaftlicher Ressourcen zur Mitgestaltung und Teilhabe, spielt die Entwicklung individueller Fähigkeiten eine große Rolle.

Das setzt voraus, dass es autismusspezifische Angebote und Wahlmöglichkeiten für die Betroffenen gibt und dass die Angebote auch für Menschen mit autistischen Einschränkungen zugänglich, verständlich und erfahrbar sind. Selbstbestimmung ist eng verknüpft mit kommunikativen und sozialen Fähigkeiten. Gerade im Bereich der Kommunikation gibt es aber für Menschen mit Autismus einen enormen Entwicklungsbedarf. Eine weitgehend selbst bestimmte Gestaltung des eigenen Lebens ist ihnen daher oftmals nur möglich, wenn die soziale Interaktion und Kommunikation gefördert wird.

Diagnose und Therapie

In Deutschland gilt, dass eine wirklich zuverlässige Diagnose mit dem Störungsbild „Autismus“ nicht vor dem 4. Lebensjahr möglich ist. Es gibt recht zuverlässige Anzeichen, die bereits mit 18 Monaten auftreten, jedoch oft nicht so gewertet werden. Eine Diagnose zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr kann bereits gestellt werden. Sie ist aber nicht so zuverlässig wie zu einem späteren Zeitpunkt. Es gibt einige diagnostische Materialien, die für eine frühe Verdachtsdiagnose hilfreich sein können. Der ADOS (Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen) ist die international am häufigsten angewandte, strukturierte und am besten evaluierte Beobachtungsskala zur Erfassung autistischer Störungen. Sie ist angelehnt an die Diagnoseschlüssel ICD – 10 / DMS-IV. Eine ausführliche Stellungnahme der Arbeitsgruppe Diagnostik zu Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen finden Sie auf der Webseite der Landesarbeitsgemeinschaft Autismus Niedersachsen.

Anhand der diagnostischen Ergebnisse ergeben sich für jeden Betroffenen individuelle autismusspezifische Therapieansätze. Besonders wichtig ist die Förderung in den Bereichen der sozialen Interaktion, der Kommunikation, der Wahrnehmung, der Motorik und der Selbstständigkeit bei z.B. der Umwelterkundung, Orientierung, Alltagsbewältigung, Beschäftigungsmöglichkeiten, Interessen und Verkehrsverhalten. Gezielt muss das Verhalten gefördert werden, das dem Menschen mit Autismus die aktive Teilnahme an sozialen Erfahrungen ermöglicht und Kinder darüber hinaus vor einer zunehmenden Entwicklungsabweichung schützt. Ziel jeder Form der Therapie und Förderung sollte es sein, einzelne Symptome zu mildern oder abzubauen, um dem Menschen mit Autismus und seinen Angehörigen ein Maximum an Lebensqualität zu verschaffen.