2012 Stellungnahme Diagnostik

Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen
Eine Stellungnahme der LAG Autismus Niedersachsen

Als PDF-Datei herunterladen: Diagnosestandard_Lu_2013-04-21

 

Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen – Teil 1
Erarbeitet von der Projektgruppe Diagnostik
Bearbeitungsstand: Juni 2012

Einleitung

Mit dieser Stellungnahme möchten wir darlegen, was die in der Projektgruppe „Diagnostik“ des Netzwerkes Autismus Niedersachen vertretenen Personen und Einrichtungen unter guter klinischer Praxis bezüglich der Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen verstehen und dabei auch konkrete Empfehlungen geben. Damit wollen wir nicht in Konkurrenz zu den Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften treten, sondern verstehen unseren Beitrag als deren praxisnahe Übersetzung.

Wenn wir im Folgenden von „Störungen“ sprechen, so ist unser Blick zunächst auf Defizite und Abweichungen vom Normalen gerichtet. Diagnosen definieren sich darüber. Unsere Haltung gegenüber dem Menschen als Ganzes dagegen ist umfassend und wertschätzend.

In unserer Gruppe sind bislang leider keine Autismusexperten aus dem Erwachsenenbereich vertreten. Auch wenn das diagnostische Vorgehen prinzipiell nicht vom Alter der untersuchten Person abhängt, so sind unsere Aussagen doch geprägt von Untersuchern, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen.

Für wen ist diese Stellungnahme gedacht?

Diese Stellungnahme richtet sich an

–     Menschen, die in den Diagnoseprozess eingebunden sind, z.B. Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Autismus, selbst von Autismus Betroffene,

–     Menschen, die beruflich mit Autismus-Spektrum-Störungen bei Personen, für die sie Verantwortung tragen, in Berührung kommen können, z.B. Erzieher, Lehrerinnen, Ärzte, Mitarbeiterinnen in Einrichtungen der Jugendhilfe oder der Behindertenhilfe,

–     Interessierte Laien.

Diese Stellungnahme richtet sich nicht an Fachleute, die sich intensiv mit Autismus auseinandergesetzt haben und selbst Autismus-Spektrum-Störungen diagnostizieren. Diese kennen die Vorgehensweisen und einschlägigen Leitlinien, die Sicherheit geben, eine den wissenschaftlich anerkannten Vorgehensweisen entsprechende Diagnostik durchzuführen.

Wie ist diese Stellungnahme zustande gekommen und was möchten wir erreichen?

Eltern von Kindern mit Autismus haben das „Netzwerk Autismus Niedersachsen“ 2007 angestoßen. Ausschlaggebend dafür war die aus Elternsicht unbefriedigende schulische Situation vieler Kinder. Im Netzwerk sind mittlerweile neben Elterngruppen viele Einrichtungen und Fachleute vertreten, die sich professionell mit Autismus beschäftigen; die Thematik ist nicht nur auf Schule begrenzt. Unsere Projektgruppe „Diagnostik“ soll Forum für einen fachlichen Austausch sein.

Vor dem Hintergrund, dass Autismus-Spektrum-Störungen nicht immer früh erkannt und die Kinder und Jugendlichen entsprechend gefördert werden, andererseits unbegründete Befürchtungen in Richtung Autismus auftreten können, möchten wir sachliche Informationen zur Diagnostik geben. Die Leser sollen die wesentlichen Schritte nachvollziehen können und verstehen, dass die Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen ein komplexer Prozess ist.

Die wesentlichen Verdachtsmomente für Autismus-Spektrum-Störungen werden altersbezogen beschrieben. Wir möchten dazu anregen, bei entsprechendem Verdacht eine professionelle Diagnostik einzuleiten. Autismus-Spektrum-Störungen können so erkannt oder ausgeschlossen werden.

Allgemeine Bemerkungen zur Diagnostik:

Im psychiatrischen Fachgebiet, dem Autismus-Spektrum-Störungen zugeordnet sind, ordnet der Untersucher das Bild, das der Patient bietet, aufgrund seiner Erfahrung und gegründet auf der Kenntnis dessen, was die Fachwelt unter den jeweiligen Störungen und Erkrankungen versteht, diesen zu. Symptome, Beschwerden, Erlebnis- und Verhaltensweisen werden vom Untersucher wahrgenommen und in ihrer Bedeutung für die Diagnosestellung bewertet.

Auf Autismus bezogen gibt es zwei Störungsbilder, die in den 1940er Jahren unabhängig voneinander erstmals beschrieben wurden: das von Leo Kanner dargestellte Bild entspricht dem „frühkindlichen Autismus“, das von Hans Asperger dargestellte dem „Asperger­Syndrom“.

Grundsätzlich besteht zwar Übereinkunft über die Einordnung menschlichen Verhaltens und Erlebens in gesund und krank, in normal und abweichend und die Zuordnung zu bestimmten Störungskategorien und Krankheitsbildern.

Dieser Konsens ist jedoch nicht unumstritten (was gilt als „normal“?), ist abhängig vom kulturellen Hintergrund und verändert sich zudem mit der Zeit. So wird die Krankheitslehre immer weiter entwickelt, es werden neue Kategorien gebildet, Störungsbilder definiert und zusammengefasst.

Aktuell werden die beiden erwähnten Ausprägungen des Autismus als verschiedene Formen des sogenannten „Autismus-Spektrums“ aufgefasst. Zukünftig steht also bei der Frage, ob Autismus vorliegt, nur die Einordnung zum „Autismus-Spektrum“ im Raum, das in verschiedene Spielarten untergliedert ist.

Das beschriebene klassische Vorgehen der Diagnosenbildung ist anfällig für Unterschiede zwischen den Untersuchern: Zwei verschiedene Untersucher können durchaus das Bild, das ein- und derselbe Patient bietet, für die Diagnose unterschiedlich bewerten.

Um dieser Subjektivität zu begegnen und Diagnosen nachvollziehbar zu machen, werden seit langem Klassifikationssysteme eingesetzt. Darin sind Kriterien beschrieben, die bei der jeweiligen Störung auftreten müssen oder können.

In Gebrauch sind das DSM[1][1] (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie und die ICD[1][2] (Internationale Klassifikation der Krankheiten) der Weltgesundheitsorganisation, aktuell das DSM IV und die ICD 10.

Im Fall des Autismus sind die drei Kernsymptome: Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion, Beeinträchtigungen der Kommunikation und die Neigung zu eingeschränkten, wiederkehrenden Interessen und Verhaltensweisen. Im ICD 10 ist Autismus im Kapitel F 84 unter „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ eingeordnet. Damit sind Störungsbilder gemeint, die grundsätzlich angeboren sind (auch wenn sie sich erst im Laufe der Zeit zeigen) und die Entwicklung der Person in ihrer Gesamtheit beeinflussen, nicht nur einzelne Bereiche.

[1] [1] Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
[1] [2] International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

Kriterien der Klassifikationssysteme können grundsätzlich in Form von Fragebögen und Beobachtungsschemata strukturiert erfasst werden. Die Diagnosestellung wird damit objektiver und nachvollziehbarer. Ein weiterer Vorteil ist, dass auf diese Weise alle Kriterien abgefragt und erfasst werden.

Neben die persönliche Einschätzung des Untersuchers tritt damit ein Untersuchungsverfahren, das an vielen Menschen erprobt ist, von denen bekannt ist, dass sie nach den bisher gültigen Kriterien die Erkrankung oder Störung haben.

Für Autismus-Spektrum-Störungen gibt es solche diagnostischen Verfahren.

Außer der eigentlichen Diagnose kann mit Tests auch der Stand der kindlichen Entwicklung eingeschätzt werden, man spricht dann von „Entwicklungsalter“.

Auch die Intelligenz, also das, was unter der Gesamtheit der geistigen Fähigkeiten verstanden wird, kann getestet werden. Es gibt sowohl Intelligenztests, für die Sprache erforderlich ist, als auch solche, die ohne Sprache auskommen. Immer müssen natürlich eine Beziehung und irgendeine Art Kommunikation zwischen Untersucher und Proband möglich sein; die Testaufgaben müssen verstanden werden.

Testungen, um den Entwicklungsstand und die Intelligenz zu erfassen, können sehr hilfreich sein, um die Diagnose besser einschätzen und Aussagen zur erforderlichen Förderung machen zu können.

Damit ein Test aussagekräftig ist, müssen genügend Zeit und Ruhe zur Verfügung stehen, die Mitarbeit des Probanden muss gewährleistet sein.

Für alle Tests gilt: Der Test misst, wonach der Test fragt, also die Kriterien, die nach dem Stand der Wissenschaft zur Diagnose oder zum jeweiligen Entwicklungsstand oder Intelligenzniveau gehören. Grundsätzlich unterscheidet ein Test aber nicht mit letzter Sicherheit über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Diagnose oder Eigenschaft, sondern man kann mit dessen Hilfe eine mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit behaftete Aussage treffen, die auf den Antworten des Probanden und Beobachtungen des Untersuchers beruht.

Die persönliche Einschätzung des Untersuchers bleibt weiterhin sehr wichtig! Ein Untersuchungsverfahren kann immer nur ein Hilfsmittel bei der Diagnosefindung sein und darf nie absolut gesetzt werden!

Im Fall der Autismus-Spektrum-Störungen sind Tests hilfreich, um bestimmte, typische Verhaltensweisen nicht zu übersehen, die alleine in einem Gespräch nicht zum Tragen kämen.

Grundsätzlich ergibt sich die Diagnose bei Autismus-Spektrum-Störungen in der Zusammenschau aus Verhaltensbeobachtung und Kenntnis der Vorgeschichte, ergänzt durch Angaben von Dritten (z.B. Eltern, Schule) unter Berücksichtigung des Entwicklungsniveaus und der psychosozialen Situation. Wichtig ist, dass auch gegenüber anderen Störungen abgegrenzt wird. Damit ist ein mehrdimensionales Vorgehen in der Diagnostik beschrieben, mit dem sich die Störung gut einschätzen und Ansätze für die Therapie ableiten lassen.

Technische Untersuchungen (z.B. EEG, Bild gebende Methoden) spielen für die eigentliche Diagnosefindung (auf Autismus-Spektrum-Störung bezogen) keine Rolle, sind bei der Abgrenzung und bei der Erfassung zusätzlich vorliegender Störungen aber sinnvoll.

Der Diagnoseprozess kann bei einem klaren Bild zügig abgeschlossen werden, er kann andererseits aber auch kompliziert und langwierig sein.

 

Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen – Teil 2
Erarbeitet von der Projektgruppe Diagnostik
Bearbeitungsstand: Juni 2012

Einleitung:

Eine qualifizierte Diagnostik bei Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung wird von darin qualifizierten Fachleuten durchgeführt, die über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet der psychischen Störungen und der Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen verfügen.

Fachlich qualifiziert ausgeführte Diagnostik bei Autismus-Spektrum-Störungen sollte nach Einschätzung der Arbeitsgruppe Diagnostik des Netzwerkes Autismus Niedersachsen immer mindestens der unten beschriebenen Basisdiagnostik (B) entsprechen. Erweiterte diagnostische Verfahren (E) können die Sicherheit der Diagnose deutlich erhöhen.

Darüber hinaus sind in besonderen Fällen ergänzend bei Indikation (I) weitere diagnostische Maßnahmen angezeigt.

Autismusspezifische Diagnostik:

Eine fachgerechte Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störung erfordert immer die Erhebung der Vorgeschichte (Anamnese) mittels einer gezielten, entwicklungs- und symptomorientierten Befragung der Eltern, gegebenenfalls auch anderer wesentlicher Bezugspersonen (B) sowie eine standardisierte klinische Verhaltensbeobachtung des Kindes oder Jugendlichen (B).

Als Goldstandard werden derzeit darüber hinaus der Einsatz eines Autismus-Screeningfragebogens (E), als standardisierte klinische Verhaltensbeobachtung die Durchführung des ADOS (Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen) (E) sowie eine spezifische Autismusanamnese mit dem ADI-R (E) empfohlen.

Screeningverfahren, also Suchtests, werden nicht zur Stellung einer Diagnose entwickelt, sondern dienen dem Diagnostiker dazu, Verdachtsdiagnosen zu finden und sind in der Regel auch für weitere psychische Störungen sensitiv. Für die Feststellung einer Autismus-Spektrum-Störung sind sie nicht ausreichend. Aktuell im deutschsprachigen Raum eingesetzte Autismus-Screeningfragebögen sind z.B. der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK), die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) sowie zur Früherkennung der M-CHAT (idealerweise bei einem Entwicklungsalter von 24 Monaten durchgeführt).

Der ADOS (E) ist ein standardisiertes Verfahren zur Erfassung von Kommunikation, sozialer Interaktion, Spielverhalten, stereotypem Verhalten und eingeschränkten Interessen und enthält Aufgaben und Aktivitäten, bei denen das Auftreten oder Fehlen von Verhaltensweisen beobachtet werden kann, die für eine Autismus-Spektrum-Störung typisch sind. Dabei werden gezielt soziale Situationen geschaffen, in denen eine bestimmte Verhaltensweise mit großer Wahrscheinlichkeit auftritt. Je nach Alter, Entwicklungstand und Sprachniveau werden unterschiedliche Module des ADOS mit unterschiedlichen Aktivitäten durchgeführt. Die vom Untersucher dem Kind nahe gebrachten Aufgaben sind jeweils auf die Diagnosekriterien für Autismus-Spektrum-Störungen entsprechend den von der WHO herausgegebenen Richtlinien der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) hin konstruiert.

Das Diagnostische Interview für Autismus ADI-R (E) ist eine strukturierte mündliche Befragung zur Erhebung wichtiger, für die Diagnosestellung einer Autismus-Spektrum-

Störung relevanter Informationen. In der Regel wird der ADI-R mit einem Elternteil oder mit beiden Eltern zusammen durchgeführt. Der Patient ist während des Interviews nicht anwesend.

Die Durchführung von ADOS und ADI-R sind nur durch einen mit den Verhaltensbesonderheiten der autistischen Kinder und Jugendlichen erfahrenen Diagnostiker durchführbar. Eine qualitativ gesicherte Anwendung von ADOS und ADI-R verlangt immer unbedingt eine umfangreiche fachliche Weiterbildung des Untersuchers in diesen Verfahren.

In besonderen Fällen kann optional eine längere videodokumentierte Verhaltensbeobachtung (I) des Kindes oder Jugendlichen zur Diagnosefindung hilfreich sein.

Die klinische Diagnosestellung erfolgt nach den Kriterien des in Deutschland gesetzlich vorgeschriebenen ICD-10 (B). Derzeit bestehen 4 verschiedene Autismusdiagnosen: „Frühkindlicher Autismus“, „Atypischer Autismus“, „Asperger-Syndrom“ und „Tiefgreifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet“. Die zukünftige wissenschaftliche Entwicklung geht in die Richtung, die Differenzierung dieser 4 unterschiedlichen Autismusdiagnosen zugunsten einer einheitlichen Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ aufzugeben.

Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik:

Eine fachliche Einschätzung des Entwicklungsstandes und der intellektuellen Leistungsfähigkeit ist für die Basisdiagnostik (B) einer fachgerechten Autismusdiagnostik unverzichtbar. Die Beurteilung erfolgt idealerweise mit standardisierten psychometrischen Intelligenz- und Entwicklungstestverfahren. Derzeit üblicherweise bei Kindern und Jugendliche vorwiegend eingesetzte Intelligenztestverfahren, die auch die Erfassung kognitiver Teilleistungstörungen ermöglichen, sind der WPPSI-III, der HAWIK-IV oder der K-ABC. Zur orientierenden Erfassung des Intelligenzniveaus werden die Raven – Matrizen (CPM bzw. SPM) oder CFT 20-R angewandt. Zur Erfassung des Intelligenzniveaus nicht sprechender Kinder können die Snijders-Oomen nonverbalen Intelligenztests (SON-R) eingesetzt werden. Die Anwendung psychometrischer Testverfahren ist bei von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffenen Kindern aber in vielen Fällen nicht in jedem Alter möglich, so dass dann die Einschätzung des Entwicklungsstandes und des intellektuellen Leistungsniveaus nur orientierend nach klinischer Beobachtung in der Untersuchungssituation erfolgen kann.

Medizinische Diagnostik:

Grundsätzlich muss geklärt werden, ob

– eine andere Störung als Autismus das klinische Bild hervorruft (Differentialdiagnose)

– zusätzlich zur Autismus-Spektrum-Störung ein spezifisches genetisches Syndrom besteht (Syndrom-Diagnose)

– zusätzlich zur Autismus-Spektrum-Störung weitere Störungen hinzutreten (Feststellung von Komorbidität)

Die körperliche und neurologische Untersuchung (B) wird von einem mit der körperlichen, neurologischen und psychosozialen Entwicklung von Kindern erfahrenen Arzt durchgeführt. Hierbei wird besonders auf sogenannte Dysmorphiezeichen (typisches Aussehen bei bestimmten Syndromen) bzw. neurologische Symptome geachtet.

Da Menschen mit Autismus eine deutlich erhöhte Inzidenz von Anfallsleiden aufweisen, sollte ein Elektroenzephalogramm (EEG) abgeleitet werden (B). Durch ein Schlaf-EEG (I)

kann z.B. die erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landau-Kleffner-Syndrom) abgegrenzt werden.

Bei Hinweisen auf ein Syndrom mit Autismus-Spektrum-Störung kann eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns weitere Aufklärung schaffen (I). Eine routinemäßige Untersuchung mit MRT bei Autismus hat sich nicht als sinnvoll erwiesen.

In jedem Fall ist eine sorgfältige Untersuchung von Hören und Sehen notwendig (B).

Differentialdiagnose:

–    Wesentliche Differentialdiagnosen im Kindesalter sind: Bindungsstörungen, Schizophrenie mit ungewöhnlich frühem Beginn, schwere Sinnesbeeinträchtigungen, rezeptive Sprachstörung, Intelligenzminderung mit einer Verhaltensstörung.

–     Wesentliche Differentialdiagnosen im Jugendalter sind außerdem: Zwangsstörung, schizotype Störung und Schizophrenie.

Kinder mit einer schweren Bindungsstörung können autistisch wirken. Gründliche Anamnese sowie der Entwicklungsverlauf in einem fördernden Milieu klären die Diagnose.

Kinder mit einer rezeptiven bzw. expressiven Sprachstörung können im Kleinkindalter autistisch anmutendes Verhalten zeigen. Allerdings sind Spielverhalten und nonverbale Kommunikation in der Regel nicht betroffen.

Gehörlosigkeit bzw. Blindheit können vor allem in der Säuglings- und Kleinkinderzeit zu deutlichen Verzögerungen und Auffälligkeiten in der Entwicklung der Kommunikation, der sozialen Interaktion und auch der kognitiven Funktionen führen. Die Verhaltensweisen ähneln denen autistischer Kinder zum Teil sehr, die Behandlung erfordert aber ein völlig anderes Vorgehen.

Mutismus lässt sich leicht ausschließen, da diese Kinder zumindest gegenüber manchen Bezugspersonen normales Kommunikations- und Interaktionsverhalten zeigen.

Bei älteren Kindern und Jugendlichen auftretende schizophrene Psychosen lassen sich meist durch sogenannte Positivsymptome (Wahn, Halluzination) von Autismus abgrenzen. Zudem liegt immer eine längere unauffällige Entwicklung vor der Erkrankung vor.

Syndrome:

Ergeben sich bei der Untersuchung Hinweise auf ein spezifisches genetisches Syndrom, ist eine genetische Untersuchung in Form einer Chromosomenanalyse bzw. je nach Anfangsverdacht in Form einer entsprechenden molekulargenetischen Untersuchung angezeigt (I).

Gelegentlich assoziiert mit Autismus ist z.B. das Fragile X-Syndrom. Aber auch das Rett-Syndrom, die Tuberöse Hirnsklerose, das Williams-Beuren-Syndrom und viele andere Syndrome weisen vermehrt autistische Verhaltensweisen auf.

Eine Stoffwechseluntersuchung (I) kann z.B. eine Phenylketonurie aufdecken.

Komorbidität:

Einige Störungen treten bei Menschen mit Autismus überzufällig häufig auf und werden als komorbide Störungen bezeichnet. Kinder und Jugendliche können psychiatrische Erkrankungen entwickeln wie Ticstörungen, Hyperaktivität mit Störungen der Aufmerksamkeitsleistungen, Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Phobien, Störung des Sozialverhaltens, Ess-Störungen, Schlafstörungen, Ausscheidungsstörungen.

Indikationen für Therapien und pädagogische Fördermaßnahmen:

Nach Diagnosestellung wird in Abstimmung mit der Familie ein Behandlungsplan erstellt. Autismusspezifische Förderung wird von Autismustherapiezentren angeboten. Frühfördermaßnahmen verbessern die Prognose junger autistischer Kinder signifikant. Diese können durch Autismuszentren oder pädagogische Frühförderstellen erfolgen. Eltern und andere Bezugspersonen sollten in das Behandlungskonzept eng eingebunden werden.

Bei erheblichen komorbiden psychischen Störungen sind psychotherapeutische Maßnahmen notwendig.

Je nach Bedarf des Kindes sind weitere Therapien indiziert wie Ergotherapie, Logopädie oder Physiotherapie.

Es erfolgt Beratung und Unterstützung bei der Auswahl geeigneter Kindergärten, Schulen und ggf. notwendiger Integrationshilfen.

Die Kernsymptomatik der Autismus-Spektrum-Störungen ist nicht medikamentös behandelbar. Bei Bedarf wird jedoch eine medikamentöse Behandlung der Begleitsymptomatik (z. B. aggressives / autoaggressives Verhalten) und der begleitenden, komorbiden Störungen erwogen. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass bei Autismus-Spektrum-Störungen Medikamente häufig in der Dosierung angepasst werden sollten (geringere Dosis) und Nebenwirkungen häufiger auftreten.

Aufklärung und Beratung der Eltern:

Die Eltern werden über die Diagnose und ihre Besonderheiten, die Genese, die mögliche Prognose, Kontaktadressen und Selbsthilfegruppen aufgeklärt. Sie werden über sozialrechtliche Ansprüche informiert (Behindertenausweis, Pflegegeld, Eingliederungshilfen etc.).

Das Kind und seine Familie sollten zur weiteren Beratung und Koordination der Maßnahmen durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie oder durch ein Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ) langfristig begleitet werden.

 

Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen – Teil 3
Erarbeitet von der Projektgruppe Diagnostik
Bearbeitungsstand: März 2013

Früherkennung von frühkindlichem Autismus    

Eine möglichst frühe Diagnose birgt die Chance, früh durch gezielte intensive Fördermaßnahmen den Verlauf einer autistischen Störung positiv zu beeinflussen und der Manifestation von Problemverhalten vorzubeugen.

Gleichzeitig birgt eine frühe Diagnose aber auch das Risiko der Fehlerhaftigkeit, da einzelne Symptome im falschen Zusammenhang interpretiert werden könnten oder sich im Laufe der Entwicklung anders ausgestalten (siehe hierzu den Absatz „Differentialdiagnose“ im Textteil „Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen“).

Ein Kriterium zur Diagnose des frühkindlichen Autismus ist die abweichende Entwicklung schon vor dem 3. Lebensjahr. Oft ist diese erst in der Rückschau feststellbar.

Mit den heutigen diagnostischen Möglichkeiten kann in der Regel noch keine verlässliche Diagnose vor dem 36. Lebensmonat gesichert gestellt werden. Bei Kindern unter drei Jahren empfiehlt es sich daher, von einem Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung zu sprechen. Wichtig sind dann engmaschige Verlaufskontrollen. Bei dringendem Verdacht sollten unbedingt zeitnah autismusspezifische Fördermaßnahmen nachdrücklich empfohlen werden.

Nur bei sehr eindeutiger Symptomatik ist eine Diagnose schon ab dem 24. Lebensmonat möglich.

Grundsätzlich erklären sich die frühen Symptome aus der qualitativ veränderten sozialen Wahrnehmung bei Kindern mit Autismus.

Durchgängig können folgende Bereiche zum Teil schon sehr früh auffällig sein:

–          Das Lächeln: Es tritt auf, ist aber nicht auf eine Person gerichtet und hat wenig soziale Funktion.

–          Die gemeinsame Aufmerksamkeit: Das aktive, mit Emotion (z.B. Freude) verbundene Zeigen auf Personen oder Gegenstände, das sich in Gesten, Mimik oder Vokalisation ausdrücken kann, und mit Blickkontakt einhergeht, ist deutlich reduziert. Dagegen ist dem Kind das so genannte „Befehlszeigen“, mit dem es etwas erreichen möchte, möglich. Das Kind „langt nach erwünschten Objekten“ (mit ganzer Hand statt mit Zeigefinger), d.h. es agiert rein bedürfnisbezogen und nicht kommunikativ. Dazu ergreift es auch oft als „Werkzeug“ die Hand der Bezugsperson.

–          Die wechselseitige Übernahme der „Führungsrolle“ im gemeinsamen Spiel, das Initiativeergreifen, etwas Neues im Spiel anzufangen, ist nicht möglich. Kinder mit Autismus beschäftigen sich oft allein, achten nicht auf andere.

–          Das „Spielverhalten“ ist eher stereotyp, an Details orientiert, nicht der eigentlichen Funktion des Spielmaterials entsprechend, es werden z.B. bewegliche Teile gedreht, Oberflächen befühlt oder gerieben.

–          Besonderheiten in der sensorischen Verarbeitung mit Über- oder Unterempfindlichkeiten in den Bereichen Schmecken, Riechen, Fühlen, Hören, Sehen sind zu beobachten, ohne dass die Sinnesfunktionen an sich beeinträchtigt sind.

Erste Warnzeichen für frühkindlichen Autismus können die unten aufgeführten Symptome sein, sie müssen aber nicht zwingend auftreten. Wenn Eltern sich diesbezüglich Sorgen machen, ist eine umfangreiche und differenzierende Entwicklungsdiagnostik notwendig, die auch Autismus-Spektrum-Störungen mit einschließt (siehe „Standards der Autismusdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen“).

Im ersten Lebensjahr u.a.:

–          Das erste soziale Lächeln tritt verzögert und selten auf oder ist nicht vorhanden.

–          Das Baby reagiert auf Körperkontakt ablehnend, macht sich steif, schreit, ist aber wieder zufrieden, wenn es für sich alleine in der Wiege liegt.

–          Seltener: Das Kind verlangt extrem nach Körperkontakt, will immer Körperkontakt haben.

–          Das Kind nutzt kaum Zeigegesten, bringt den Bezugpersonen selten oder keine Objekte, um sie gemeinsam zu betrachten.

–          Es lautiert wenig, kommuniziert nicht über Gesten wie Zeigen, Winken.

–          Das Kind zeigt einen reduzierten Blickkontakt, hat einen leeren Blick.

–          Es reagiert kaum auf seinen Namen, wirkt manchmal wie taub.

Im zweiten Lebensjahr verdichten sich u.a. die oben genannten Symptome:

–          Das Kleinkind hat keine oder seltener stabile Interaktion mit seinen Bezugspersonen, es teilt die Aufmerksamkeit nicht und kann sich nicht gemeinsam mit anderen auf ein Thema oder ein Objekt beziehen.

–          Die Sprache entwickelt sich nicht oder stagniert in der Entwicklung oder die sprachliche Entwicklung ist um das zweite Lebensjahr herum rückläufig. Auf jeden Fall ist die Sprachentwicklung stark auffällig.

–          Es treten sich wiederholende Bewegungen, sogenannte Stereotypien, auf.

–          Beim Kind sind keine „so – tun – als – ob“ – Spiele zu beobachten.

–          Das Kind imitiert kaum oder gar nicht.

Unabhängig vom Lebensalter können folgende Probleme bei frühkindlichem Autismus in Kombination mit oben genannten Symptomen auftreten:

–          Ein- und Durchschlafstörungen.

–          Verweigerung der Nahrungsaufnahme, Nahrungsaufnahme nur von bestimmten Lebensmitteln.

–          Verdauungsstörungen.

–          Auffällige Schwierigkeiten bei alltäglichen Abläufen im Bereich der Pflege und Versorgung sowie Aufsicht.

–          Fixierung auf bestimmte Bezugspersonen, Tätigkeiten, Objekte und Handlungsabläufe.

–          Schwere Wutausbrüche, emotionale Instabilität.

–          Selbststimulationen, autoaggressives Verhalten.

–          Motorische Unruhe.

–          Sozialer Rückzug.

Weitere differenzierte Symptome siehe:

Checkliste zur Erfassung früher Symptome des Autismus (CESA) in: F. Poustka, S. Bölte, S. Feineis-Matthews, G. Schmötzer, Autistische Störungen (2004), Hogrefe, Göttingen

Weitere Hinweise :

Informationen des Qualitätszirkels der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. zu Autistischen Störungsbildern:

http://www.dgspj.de/qualitaetssicherung/papiere-der-qualitaetszirkel

Ergebnisse von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen in: Inge Kamp-Becker et. al.: Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen im Kindesalter in: Kindheit und Entwicklung 19 (3), 144-157, Hogrefe, Göttingen 2010.